Himmel, Herrgott, was liegt denn hier herum?
Mein Blick geht nach unten und dort entdecke ich eine angstvoll aussehende Frau.
Ich bin über sie gestolpert, erkenne ich voller Entsetzen.
„Habe ich sie verletzt?“, spreche ich die auf dem Boden Sitzende an.
Zögerlich gehen die Arme nach unten. Bleiben aber immer noch in einer Art Abwehrhaltung. So, als erwarte die Fremde Schläge.
Wortlos starrt sie mich an.
In den Augen liegt eine solche Verzweiflung, sodass es mir ganz übel wird. Ich frage erneut: „Habe ich Ihnen wehgetan?“
Emsig schüttelt sie den Kopf.
Erleichtert schaue ich sie mir etwas genauer an:
Osteuropäerin. Alter? Schwer zu schätzen. Dunkle dicke Haare, zu Zöpfen geflochten. Einfache wollene Kleidung, so wie sie von der Landbevölkerung in den südlichen, osteuropäischen Ländern getragen wird.
Ein Gesicht, von der Sonne gegerbt, die Haut vorzeitig gealtert.
Die kohlschwarzen Augen könnten so schön sein, wenn das Strahlen darin nicht erloschen wäre.
Solch ein Elend, hier auf dem Boden zu sitzen. Dem Hass, dem Abscheu und dem Ekel der Vorübereilenden ausgesetzt zu sein, schießt es mir durch den Kopf.
Ist Ekel ein anderes Wort für Berührungsängste? Unwissenheit? Gedankenlosigkeit? Desinteresse?
Ich werde von einem diffusen Schwindel erfasst. Übelkeit steigt vom Magen her auf. Panik macht sich in mir breit.
Nur weg von hier denke ich, und will mich abwenden. Doch die kohlschwarzen Augen lassen mich nicht los.
Sie bitten nicht, und sie flehen nicht. Sie halten mich einfach nur fest.
Wenn ich jetzt gehe, ohne irgendetwas getan zu haben, werde ich es mein ganzes restliches Leben bereuen, denke ich und begebe mich in die Hocke.
„Haben sie Hunger?“ Meine Worte unterstreiche ich mit einem Reiben der Hand auf meinem Bauch. „Durst?“ Zur besseren Verständigung führe ich ein imaginäres Glas an den Mund.
Ein mattes Lächeln huscht über das Gesicht der Frau. Eifrig nickt sie einige Male mit dem Kopf.
Ich scheue mich, der am Boden Kauernden die Hand zu reichen, um ihr aufzuhelfen. So sage ich nur: “Okay. Dann mal los“.
An der nächstgelegenen Metzgerei angekommen wende ich mich an die Frau an meiner Seite: “was möchten Sie essen?“
Auf meine Ermunterung hin deutet sie auf die noch kesselwarme Fleischwurst.
Ich kaufe für meinen Schützling ein Viertelpfund Fleischwurst und ein Brötchen. Eine Cola hole ich aus dem Automaten.
Der Lohn für meine Gabe ist überwältigend.
Völlig in sich versunken, mit einem glückseligen Gesichtsausdruck verzehrt die Unbekannte das Viertel Pfund Fleischwurst.
Ein Biss in das Brötchen, ein Schluck Cola darauf. Reine Freude zeigt sich auf dem ansonsten so traurigen Gesicht. Die Kohleaugen haben einen ganz eigenen Glanz und die angespannte Haltung ist vollständig verschwunden.
Zielsicher steuere ich auf den Eingang der Boutique zu und gerate ins Stolpern.
Mir schießt ein Zitat aus der Bibel durch den Kopf:
“Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.” (Mt 25,40)
Anne Michel, 25.03.2021