Erinnerungen an den Herbst in meiner Kindheit

von unserem Mitglied Anne Michel

In meiner Kindheit lebten wir alle im Reigen der Jahreszeiten. Die Unterschiede von Frühling, Sommer, Herbst und Winter waren deutlich sichtbar und der Wechsel zur nächsten Jahreszeit kündigte sich immer frühzeitig mit den jeweils spezifischen Vorzeichen an.

Für mich wurde es Herbst, wenn ich mit meiner Freundin Claudia durch die Felder lief, und der Wingertsschütz uns auf seinem knatternden Moped entgegenkam.

Erst dann bemerkte ich, dass es morgens bereits empfindlich kalt war und auf unserem Weg in die Schule die Morgennebel schleierförmig durch den Himmel zogen.

Die Emsigkeit, mit der die Bauern die Ernte einbrachten, wurde übergangslos hektisch. Die Pferdegespanne und Traktoren fuhren den ganzen Tag, mit den mehr oder minder vollen Rollen, den Ertrag des Jahres in die Vorratsspeicher der heimischen Höfe ein.

In unserem Ort gab es in dieser Zeit nur ein Thema: Wird das Wetter in den nächsten Tagen und Wochen halten?  Und wie wird in diesem Jahr die Ernte ausfallen?

Preise für die Winterkartoffeln und das Brotgetreide wurden kontrovers diskutiert. Auch bei uns zu Hause. Unsere Mutter, die sich ständig um steigende Preise sorgte, berichtete beim Abendessen, dass der Bauer, bei dem sie zur Erntezeit immer aushalf, mit einer sehr bescheidenen Ernte rechnen würde.

Unser Vater fing an lauthals an zu lachen. «Das ist nun aber wirklich nichts Neues. Ich habe noch niemals gehört, dass der Kartoffelbauer mit dem Ertrag zufrieden ist. Er ist immer am Jammern, egal wie seine Ernte ausfällt».

«Der Bauer nannte einen Zentnerpreis von 12 DM, 2 Mark mehr, als im letzten Jahr» bemerkte unsere Mutter düster.

Begütigend legte mein Vater seine Hand auf den Arm meiner Mutter.

«Wir werden es schon schaffen, sagte er mit fester Stimme. Jedes Jahr erzählt der Bauer dir den gleichen Unsinn. Es empfiehlt sich, nicht alles für bare Münze nehmen. Er ist ein unverbesserlicher Pessimist. Noch nie haben wir den hohen Kartoffelpreis bezahlt, den er im Vorfeld nannte».

«Wenn das alles so stimmt, was Du sagst, bräuchte ich mich nicht um die Bezahlung der Winterkartoffel zu sorgen», antwortete unsere Mutter.

«Schau dir an, wie außergewöhnlich gut die Ernte in diesem Jahr in unserem Garten ausfällt. Das Ergebnis im Kleinen kannst du getrost auf das Große übertragen».

Ein zögerliches Lächeln huschte über das Gesicht unserer  Mutter. Sofort entspannten sich merklich alle, die mit am Tisch saßen. Oh Väterchen dachte ich zu den hunderttausenden Malen, welch ein Segen, dass es dich, dein Lachen und deine Zuversicht gibt.

Die Anzeichen, dass der Herbst im Anzug ist, mehrten sich. Die Blätter der Bäume verändern sich von dem sommerliche Grün in die üppige Vielfalt der herbstlichen Farben. Sie glitten lautlos zu Boden, wenn der jetzt merklich stärkere Wind durch die noch belaubten Baumkronen wehte.

Mit einem lauten Plopp fielen die ersten Kastanien herab. Teilweise waren sie noch in den grünen Kapseln gefangen. Diese erinnern mich, auch heute noch, regelmäßig an Igel, weil ihre Gehäuse so stachelig sind.

Claudia und ich streiften täglich durch die Felder.

Die deutlichen Veränderungen in der Natur waren nicht mehr zu leugnen.

Die abgeernteten Getreidefelder entpuppten sich zur  Spielwiese von allerlei Getier. Zwischen den Stoppeln spielten die jungen Hasen. Wir blieben stehen und schauten lächelnd dem lustigen Treiben auf den Äckern zu. Unzählige Mäuse jagten kreuz und quer über das Feld. Ich ekle mich entsetzlich vor den kleinen pelzigen Tierchen und hielt jedes Mal erschrocken die Luft an, wenn ein besonders mutiges Mäuschen direkt vor meinen Füßen in ein Loch flitzte.

Claudia findet die wuseligen Tierchen entzückend und lachte sich halb tot, wenn ich zur Salzsäule erstarrte, weil ein putziges Mäusle  meinen Weg kreuzte.

Dafür hat sie es nicht so mit Spinnen. Wurde mir ihr Gelächter zu heftig, erinnerte ich sie daran, dass die Achtbeinigen sich jetzt gerne in die heimeligen, warmen Stuben zurückziehen. Dann blieb ihr das Lachen im Halse stecken.

Wir erzählten die kuriosesten Mäuse- und Spinnenerlebnisse, schauten uns an, prusteten gemeinsam los und lachten darüber, bis uns die Bäuche wehtaten.

Wir wunderten uns, wenn wir uns endlich wieder eingekriegt hatten, wie verschiedenartig doch Abneigungen und Vorlieben sind. Einträchtig schlenderten wir weiter durch die sich herbstlich verändernde Landschaft.

Die Bäume trugen schwer an den Früchten und manch ein Ast wurde mit einem Holzpfahl gestützt, damit er nicht abbrach.

In den Wingerten hingen die Trauben prall und saftig an den Reben. Gackernd und schrill schreiend rannten die Rebhühner und die Fasanen zwischen den Reihen umher.

Bald wird die Weinlese beginnen, fast zeitgleich mit den Herbstferien. Claudia und ich werden, wie jedes Jahr, 3 lange Wochen bei der Weinernte helfen, um uns etwas Geld zu verdienen.

Ich las immer mit meiner Mutter gemeinsam in einer Reihe. Sie hatte bei dem Winzer durchgesetzt, dass ich die gleiche Entlohnung wie Sie bekam. Die Argumente meiner Mutter, dass ich genauso zügig arbeite, wie die Erwachsenen, und dass wir meistens sogar schneller lesen als die Anderen, vermochte der geizige Bauer nicht zu entkräften. Und so profitierte ich durch ihr Verhandlungsgeschick, indem ich 1/3 mehr Lohn erhielt, als die anderen Kinder.

Claudia und mir fiel auf, dass der Herbst einen speziellen, eignen Geruch hat. Die Erde war feuchter und schwerer, und roch leicht modrig und faulig.

In unserer Gegend wurden damals sehr viele Zuckerrüben angebaut, die in der nicht weit entfernten Fabrik zu Haushaltszucker verarbeitet wurden.

Der süßliche Geruch, der aus den dortigen Schornsteinen emporstiegt, hing  für einige Wochen in der Luft.

Der eigentümliche Duft und die für den Herbst typische Abendröte veranlassten die älteren Mitbürger dazu, den gespannt lauschenden Kindern, die Mär von dem plätzchenbackenden Christkind zu erzählen.

Claudia und ich genossen unsere Streifzüge durch die herbstlichen Fluren und Felder in vollen Zügen.

Wenn wir nicht damit beschäftigt waren zu schnattern, bemerkten wir, dass die Natur im Herbst sehr laut sein kann.

Da war das Rauschen der Vogelschwärme, die sich in diesem Tagen sammelten, um gemeinsam in den Süden zu fliegen.

Oder der Herbstwind pfiff uns schneidend kalt um die Ohren. Die rennenden Mäuse raschelten im Stroh auf den Stoppelfeldern. Das Niederwild schrie und gackerte. Die umherkletternden Eichhörnchen verursachten ein zartes Rascheln in den noch belaubten Bäumen.

Das Herunterfallen der Nüsse, der Kastanien, des überreifen Obstes mit einem vernehmlichen Plopp erschien uns ziemlich laut. Oftmals wurden wir davon unsanft gestört, wenn wir schweigend und in Gedanken versunken durch die Gemarkung zogen.

Den Herbst unbeschwert im Freien zu genießen, endete für uns mit dem Beginn der Weinlese. Und so beschlossen Claudia und ich die wenigen Tage, die uns bis dahin noch blieben, mit weiteren ausgiebigen Wanderungen durchs Feld zu füllen.

© Anne Michel 10.11.2020